Geleitwort

Claudio Merulo verdankt seinen Ruf vor allem seinen großartigen, phantasievollen Toccaten. Eine vor kurzem erschienene Gesamtausgabe der Canzoni d'intavolatura d'organo (vorgelegt von W. Cunningham und Ch. McDermott, Bd. 90-91 der Reihe Recent Researches in the Music of the Renaissance, 1992) erlaubt jetzt, unsere Kenntnisse auf ein Gebiet zu erweitern, auf dem sich Merulo ebenfalls als großer Meister erweist. Was bei dem Komponisten aus Correggio zum Teil noch zu entdecken bleibt, ist seine Kunst im Bereich der kontrapunktischen Instrumentalmusik strengen Stils. Merulos Toccaten enthalten ja polyphone imitatorische Episoden; an dieser Stelle sei außerdem bemerkt, daß Merulos polyphone Instrumentalkunst, so wie sie sich in den drei Messe d'intavolatura d'organo von 1568 entfaltet, schon im Jahre 1865 dem modernen Musiker zugänglich gemacht wurde, dank einer Ausgabe der Orgelmessen, die als wirkliche Pionierleistung von Jean-Baptiste Labat in Paris bei Richault vorgelegt wurde. Obwohl diese Ausgabe bis vor kurzer Zeit auf dem gewöhnlichen Büchermarkt erhältlich war, ist sie den meisten Orgelspielern und Forschern unbekannt geblieben.

Ein anderes Schicksal verdient die vorliegende Ausgabe, die ebenfalls Merulos kontrapunktischer Kunst gewidmet ist, derjenigen, die in hervorragender Art die Ricercari d'intavolatura d'organo kennzeichnet. Merulo gab selbst dieses Werk im Jahre 1567 heraus und bezeichnete es als erstes Buch "jener Kette, die ich komponiert habe in der Hoffnung, sie allmählich ans Licht zu bringen" (quella concatenatione, ch'io ho composto, & a poco a poco spero dare in luce), wie man in der Widmung an den Grafen Marcantonio Martinengo liest; es handelt sich um nicht weniger als zwölf Tabulaturbücher (libri d'intavolatura d'organo), die in dem bei den Ricercari gedruckten Privileg (Privilegio) erwähnt werden. Diese Absicht wurde von Merulo, soweit wir wissen, in den restlichen siebenunddreißig Jahren seines Lebens nur zum Teil, und zwar durch drei Bücher verwirklicht, nämlich die schon zitierten Messe von 1568, das erste Buch der Canzoni von 1592 und das erste Buch der Toccate von 1598. Es folgten die postumen Drucke des zweiten Buchs der Toccate (durch Simone Verovio, 1604), sowie des zweiten und dritten Buchs der Canzoni (durch Merulos Neffen Giacinto, 1606 und 1611). Dazu seien hier noch die drei Bücher der Ricercari da cantare (1574, 1607 und 1608) erwähnt, die den Clavierwerken nahe stehen, indem sie vom Komponisten als "lucubrationes, quas Deo in organis obtuli" und von Giacinto Merulo als "den Orgelspielern zugunsten" (a pro' de gli studiosi dell'organo) vorgelegte Werke bezeichnet wurden.

Von der ersten, 1567 erschienenen Ausgabe der Ricercari d'intavolatura hat - soweit heute bekannt - ein einziges Exemplar überlebt. Dieses befand sich bis zum letzten Weltkrieg in der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin, war aber nach dem Krieg nicht mehr auffindbar; in H. M. Browns Bibliographie Instrumental Music Printed before 1600 (Cambridge, Mass. 19672) wird es als verschollen, in C. Sartoris Bibliografia della musica strumentale italiana
(II, Florenz 1968) sogar als zerstört bezeichnet. Der angebliche Verlust wird von der zweiten, 1605 vom venezianischen Verleger Angelo Gardano vorgelegten Ausgabe der Ricercari nur zum Teil kompensiert, wegen der Varianten und der Fehler der Neuausgabe, sowie des mangelhaften Erhaltungszustandes des einzig bekannten Exemplars (erhalten im Civico Museo Bibliografico Musicale, Bologna). Es handelte sich trotzdem um keinen totalen Verlust, da eine von Alfred Einstein angefertigte Kopie der ersten Ausgabe von 1567 im Smith College zu Northampton, Massachusetts, aufbewahrt wird.

Armin Gaus und Andrea Marcon waren aber nicht gezwungen, für ihre Ausgabe auf Einsteins Kopie zurückzugreifen. Sie konnten stattdessen Zugang zur Originalausgabe erhalten, und zwar zum ehemals in Berlin aufbewahrten Exemplar, das vor einigen Jahren dank Andrea Marcons Intuition und Forschungsgeist in der Bilblioteka Jagiellonska zu Krakau wiederaufgefunden wurde. Die vorliegende Ausgabe verdankt also einer aufsehenerregenden Entdeckung ihr Entstehen.

Merulos Ricercari wurden, wie schon gesagt, ein Jahr nach dem Tode des Komponisten, und zwar 1605 vom venezianischen Verleger Angelo Gardano neu herausgegeben (eine Ausgabe, die trotz der Lücken des einzigen bekannten Exemplars 1982 in Faksimile beim Verlag Forni, Bologna, erschienen ist). Obwohl Gardano versichert, die Ricercari seien "mit aller Sorgfalt" (con ogni diligentia) gedruckt, ist diese zweite Ausgabe viel weniger korrekt als die erste; außerdem weist sie eine Eigenart auf: Viele "Diminutionen" und Verzierungen erscheinen in einer gegenüber der Erstausgabe einfacheren Form. Es scheint mir, daß es sich hier nicht um eine dem Verleger anzulastende Vereinfachung handelt. Ich wage eher zu vermuten, daß Gardano sich statt auf die Erstausgabe auf ein Manuskript stützte, das die "letzte Hand" noch nicht erhalten hatte. Dies stellt einen merkwürdigen Parallelfall dar zu dem, was einige Jahrzehnte vorher mit den drei Orgelmessen des Girolamo Cavazzoni geschehen war: Diese wurden ein erstes Mal, zusammen mit Hymnen und Magnificat, in der Zeitspanne 1543-1549 veröffentlicht und später, wahrscheinlich zwischen 1556 und 1569, von Antonio Gardano (dem Vater von Angelo) neu aufgelegt. Nun weist diese zweite Ausgabe, gerade so wie diejenige von Merulos Ricercari, verschiedene "Diminutionen" in vereinfachter Form, sowie einige Archaismen auf (insbesondere im Kyrie der Missa Dominicalis), die auch hier Anlaß zur Hypothese geben, die spätere Ausgabe basiere seltsamerweise auf einer früheren Version.

Mit vollem Recht nimmt die vorliegende Ausgabe jene von 1567 als Vorlage, wobei der Kritische Bericht über die Merkmale und die Fehler beider alten Ausgaben detailliert informiert. Außerdem werden alle Varianten der zweiten Ausgabe als vollständige Notenbeispiele wiedergegeben. A. Gaus und A. Marcons Bemühung, den Anspruch eines klaren, nicht nur den Fachleuten zugänglichen Textes mit demjenigen der Treue zum Notenbild der Originaltabulatur in Übereinstimmung zu bringen, ist bemerkenswert. Wie bekannt, stellt die italienische Claviertabulatur ein praktisches System dar, das eher die Bestimmung für die Hände des Spielers als die Hervorhebung und sogar die Logik der polyphonen Schreibweise privilegiert. So entspricht z.B. die Verteilung des Notentextes zwischen den beiden Systemen streng der Unterteilung zwischen den Händen; so beziehen sich auch verschiedene Pausenzeichen nicht auf das Schweigen der Stimmen, sondern auf den Übergang einer Stimme von einer Hand zur anderen (vgl. u.a. die Takte 21 und 26 des Ricercar del primo tuono); außerdem werden die Einklänge in der Notierung normalerweise nicht ausgedrückt und oft durch Pausen ersetzt (unter den vielen Beispielen sei hier eine Stelle in Takt 52 desselben Ricercar del primo tuono erwähnt). Es handelt sich um Eigenschaften, die in Gaus und Marcons Ausgabe respektiert werden.

Dieser praktische Aspekt, scheinbar in Widerspruch zu der kontrapunktischen Satzweise, stellt aber weder ein Hindernis für die Analyse des polyphonen Satzes noch einen Grund für eine geringere Wertschätzung der kompositorischen Meisterschaft dar. Man wird feststellen, wie das aus dem Zeitalter Girolamo Cavazzonis stammende polythematische Ricercare durch die Hände Merulos neugestaltet wird, und sich die Tendenz manifestiert, die Verkettung einzelner je auf einem verschiedenen "soggetto" basierenden Abschnitte durch eine komplexere Behandlung zu ersetzen. So werden die prachtvollen Ricercar del secondo tuono und Ricercar del duodecimo tuono je durch ein Hauptthema geprägt. Im Unterschied zu vielen Vorgängern, Zeitgenossen und Nachfolgern, die bevorzugten, dem Ricercare eine nüchterne Gestalt zu verleihen, ohne oder nur mit sparsam versehenen Diminutionen, sind Claudio Merulos Ricercari reich diminuiert. Die Kenntnis dieses Buches bereichert also jene wahrhafte Schule der Diminutionskunst, die das Clavierwerk des großen Meisters aus Correggio darstellt.

Der vorliegenden Ausgabe wünsche ich, die Gunst der Musikforscher und der praktischen Musiker zu gewinnen. Die Clavierspieler werden in Merulos Ricercari die Bestätigung einer Äußerung von Girolamo Diruta erblicken können (dessen Worte, bezogen auf die Kielinstrumente, sicherlich auch für die Orgel Gültigkeit haben): "Wer mit Reinlichkeit und Anmut spielen will, studiere die Werke des Signor Claudio, und er wird darin alles, was ihm nötig sein wird, finden" (chi vuol sonarlo con politezza e leggiadria, studia l'opere del Signor Claudio, che in quelle troverà quel che in ciò fa bisogno).

Luigi Ferdinando Tagliavini

November 1994